"Zu Beginn stand das Christentum wie auch die kynische Bewegung im Gegensatz zum gelehrten platonisierenden Idealismus und Intellektualismus der schreibenden Autoren, der "Schriftgelehrten". ("Du hast diese Dinge vor den Weisen und Klugen verborgen und sie den Kindern geoffenbart.") Ich zweifle nicht, dass es teilweise ein Protest war gegen eine Bewegung, die man als den jüdischen Platonismus im weiteren Sinn beschreiben könnte, ein Protest gegen die abstrakte Verehrung Gottes und seines Worts. Und es war ganz gewiß ein Protest gegen die jüdische Stammesgesellschaft, gegen ihre starren und leeren Stammestabus und gegen die Exklusivität des jüdischen Stammes, die sich zum Beispiel in der Lehre vom auserwählten Volk äußerte, das heißt in einer Interpretation der Gottheit als Stammesgott. Es scheint, daß ein derartiges Betonen der Stammesgesetze und der Einheit des Stammes nicht so sehr eine primitive Stammesgesellschaft charakterisiert, sondern daß es vielmehr ein verzweifelter Versuch ist, die alten Formen des Stammeslebens wiederherzustellen und festzuhalten. Und im Fall des Judentums scheint es eine Reaktion gegen die Auswirkungen der babylonischen Eroberungen auf das jüdische Stammesleben gewesen zu sein. Aber Seite an Seite mit dieser Bewegung zu größerer Starrheit finden wir eine andere Bewegung, die gleichzeitig entstanden sein dürfte und die humanitäre Ideen produzierte, Ideen, welche der Reaktion der großen Generation auf die Auflösung des griechischen Stammeslebens sehr ähnlich waren. Dieser Prozeß scheint sich wiederholt zu haben, als die jüdische Unabhängigkeit schließlich von Rom zerstört wurde. Das führte zu einem neuen und tieferen Schisma zwischen den beiden möglichen Lösungen, der Rückkehr zum Stamm, dargestellt vom orthodoxen Judentum, und der humanitären Einstellung der neuen Sekte der Christen, die Barbaren (oder Heiden) und auch Sklaven umfaßte. Aus der Apostelgeschichte können wir ersehen, wie ernsthaft diese Probleme waren, das soziale Problem und das nationale Problem; und dasselbe läßt sich aus der Entwicklung des Judentums ablesen; denn die Konservativen reagierten auf genau dieselbe Situation mit einem zweiten Versuch, ihre Stammeslebensformen festzuhalten und zu versteinern, indem sie sich an ihre «Gesetze» klammerten mit einer Zähigkeit, die den Beifall Platons gewonnen haben würde. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß diese Entwicklung, wie auch die Entwicklung der Ideen Platons, durch einen starken Widerstand gegen das neue Kredo der offenen Gesellschaft, in diesem Fall gegen das Christentum, inspiriert war." Karl Popper
[1945] Ch.11, Section III.
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