Thursday, September 15, 2011

Christen ohne Gotteshypothese

Lehrer, welches ist das größte Gebot im Gesetz? Er aber sprach zu ihm: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand." Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
(Mt 22, 36-40)


Wie sicherlich einigen bekannt, beantwortete der Lehrer im biblischen Neuen Testament die Frage nach der wichtigsten moralischen Norm recht zweideutig: mit einer Numerierung und mit einer Gleichsetzung. Das Gottesgebot erhielt Platz 1, das Liebesgebot Platz 2; andererseits sei das letztere gleich dem ersteren, also doch beide exaequo Platz 1? In den Schriften von Markus (10, 17) und Lukas (10,25 – 28) liest es sich nicht so, dort ist schon die Fragestellung anders. Und bei Johannes findet sich diese Idee von der Quintessenz des Christentums gar nicht mehr. Und doch kann sie einen auf den interessanten Gedanken eines christlichen Glaubens ohne Gotteshypothese bringen.

Eine Unmenge von Interpretationen bietet sich an. Hier seinen zwei exemplarisch erwähnt, wobei wir eine Definition von 'Liebe' außer Acht lassen.

a) Die Numerierung deutet an, daß die Gottesliebe priorisiert wird: Gott zu lieben ist wichtiger, als die Mitmenschen zu lieben (das kennt man aus Erfahrung im Umgang mit Christen). Zusätzlich kommt man im Christentum im wesentlichen mit den zwei genannten Geboten aus. Die restlichen Normen sind aus diesen – natürlich unter Zuhilfenahme etlicher Zusatzprämissen – logisch ableitbar: „An diesen zwei Geboten hängt (logisch) das ganze Gesetz und die Propheten“.

b) Angenommen man nimmt aber die Gleichsetzung beider Gebote ernst – im Sinne einer logischen Äquivalenz - ohne Priorisierung – was dann? Man erinnere sich, daß eine logische Äquivalenz zweier Handlungen A↔B auch die daraus gebildete Äquivalenz der Normen O(A) ↔ O(B)* impliziert. D.h. falls jemand der Auffassung ist, daß (A) den Nächsten zu lieben wie sich selbst dasselbe bedeutet (oder logisch äquivalent ist) wie (B) Gott zu lieben, dann müsste er rationalerweise auch die Konsequenz akzeptieren, daß die beiden entsprechenden Normen auf dasselbe hinauslaufen. Das hätte wiederum weitreichende Folgen. Denn was auch immer eine Person von der Existenz von Göttern hielte, durch die Liebe zum Nächsten würde – aufgrund dieser Gleichsetzung – automatisch Gott geliebt werden (und umgekehrt).** Andere Stellen im Neuen Testament deuten in dieselbe Richtung, nach Mt 25:40 wird die Liebe zum Nächsten auf geheimnisvolle Weise automatisch auf den „Menschensohn“ übertragen und stellt eine hinreichende Qualifikation für die Aufnahme in den christlichen Himmel dar.

Hätte sich die Welt günstiger, weniger tragisch entwickeln können, wenn die Christen sich nicht so stur auf die Existenz eines Schöpfergottes verlegt hätten; wenn die Quintessenz des Christentums statt dessen anders gelesen worden wäre? (Wenigstens Intelligent Design wäre uns möglicherweise erspart geblieben.)

Rosa Charles Darwin, from mcgardens.org





* 'O' bezeichnet üblicherweise den Operator 'ist geboten, daß ...'; sei 'A' eine Abkürzung für irgende einen Satz, der eine Handlung beschreibt. Dann wird 'O(A)' gelesen wie 'es ist geboten, daß A'.
** Aus Interpretation b) wären natürlich immer noch die übrigen Gebote und Normen (etwa des Dekalogs) logisch ableitbar – unter Zuhilfenahme etlicher Zusatzprämissen und Definitionen.

0 comments:

Post a Comment