Lehrer, welches ist das größte Gebot im Gesetz? Er aber sprach zu ihm: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand." Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
(Mt 22, 36-40)
Wie sicherlich einigen bekannt,
beantwortete der Lehrer im biblischen Neuen Testament die Frage nach
der wichtigsten moralischen Norm recht zweideutig: mit einer
Numerierung und mit einer Gleichsetzung. Das Gottesgebot
erhielt Platz 1, das Liebesgebot Platz 2; andererseits sei das
letztere gleich dem ersteren, also doch beide exaequo Platz 1? In den Schriften von Markus (10, 17)
und Lukas (10,25 – 28) liest es sich nicht so, dort ist schon die
Fragestellung anders. Und bei Johannes findet sich diese Idee von der
Quintessenz des Christentums gar nicht mehr. Und doch kann sie einen
auf den interessanten Gedanken eines christlichen Glaubens ohne
Gotteshypothese bringen.
Eine Unmenge von Interpretationen
bietet sich an. Hier seinen zwei exemplarisch erwähnt, wobei wir
eine Definition von 'Liebe' außer Acht lassen.
a) Die Numerierung deutet an, daß die
Gottesliebe priorisiert wird: Gott zu lieben ist wichtiger, als die
Mitmenschen zu lieben (das kennt man aus Erfahrung im Umgang mit
Christen). Zusätzlich kommt man im Christentum im wesentlichen mit
den zwei genannten Geboten aus. Die restlichen Normen sind aus diesen
– natürlich unter Zuhilfenahme etlicher Zusatzprämissen –
logisch ableitbar: „An diesen zwei Geboten hängt (logisch) das
ganze Gesetz und die Propheten“.
b) Angenommen man nimmt aber die
Gleichsetzung beider Gebote ernst – im Sinne einer logischen
Äquivalenz - ohne Priorisierung – was dann? Man erinnere sich, daß
eine logische Äquivalenz zweier Handlungen A↔B auch die daraus
gebildete Äquivalenz der Normen O(A) ↔ O(B)* impliziert. D.h.
falls jemand der Auffassung ist, daß (A) den Nächsten zu lieben wie
sich selbst dasselbe bedeutet (oder logisch äquivalent ist) wie (B)
Gott zu lieben, dann müsste er rationalerweise auch die Konsequenz
akzeptieren, daß die beiden entsprechenden Normen auf dasselbe
hinauslaufen. Das hätte wiederum weitreichende Folgen. Denn was auch
immer eine Person von der Existenz von Göttern hielte, durch die
Liebe zum Nächsten würde – aufgrund dieser Gleichsetzung –
automatisch Gott geliebt werden (und umgekehrt).** Andere Stellen im
Neuen Testament deuten in dieselbe Richtung, nach Mt 25:40 wird die
Liebe zum Nächsten auf geheimnisvolle Weise automatisch auf den
„Menschensohn“ übertragen und stellt eine hinreichende
Qualifikation für die Aufnahme in den christlichen Himmel dar.
Hätte sich die Welt günstiger,
weniger tragisch entwickeln können, wenn die Christen sich nicht so
stur auf die Existenz eines Schöpfergottes verlegt hätten; wenn die
Quintessenz des Christentums statt dessen anders gelesen worden wäre?
(Wenigstens Intelligent Design wäre uns möglicherweise erspart
geblieben.)
Rosa Charles Darwin, from mcgardens.org |
* 'O' bezeichnet üblicherweise den
Operator 'ist geboten, daß ...'; sei 'A' eine Abkürzung für
irgende einen Satz, der eine Handlung beschreibt. Dann wird 'O(A)'
gelesen wie 'es ist geboten, daß A'.
** Aus Interpretation b) wären
natürlich immer noch die übrigen Gebote und Normen (etwa des
Dekalogs) logisch ableitbar – unter Zuhilfenahme etlicher
Zusatzprämissen und Definitionen.
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