Sunday, May 27, 2012

Kritischer Rationalist, 7 Jahre alt


"Meine Eltern lebten streng nach dem jüdischen Glauben, wir aßen koscher und gingen in die Synagoge. Sie sagten mir, dass ich beim Gottesdienst den Blick gesenkt halten müsse, weil Gott dann anwesend ist. Und wer Gott ins Angesicht sieht, müsse sterben. Ich dachte viel darüber nach. Ich überlegte mir: Naja, wenn es wirklich so kommt, wäre das schon sehr schade. Aber ich dachte, es ist einen Versuch wert. Eines Tages schaute ich also während des Segens hoch. Da war kein Gott. Ich hatte das Gefühl: Ich bin belogen worden. Darüber bin ich nie weggekommen. Ich war damals vielleicht so sieben Jahre alt. Ich habe in einer Synagoge den Glauben verloren." Der amerikanische Literaturkritiker Stephen Greenblatt auf die Frage, wann er zum Atheismus bekehrt wurde

Der siebenjährige Stephen Greenblatt war - ohne es zu wissen - ein gestandener kritischer Rationalist im Sinne eines Karl Popper oder Hans Albert. Er wollte wissen, ob das, was ihm seine Eltern unter Todesdrohung weismachen wollten, der Wahrheit entsprach. Und nach langem Nachdenken kam er zu dem Entschluß, das experimentum crucis zu wagen, das seine Welt verändern sollte. Schon als Kind hatte er über das verfügt, was selbst gläubigen Erwachsenen fehlt: die Kühnheit, die familiär und kulturell ererbten Dogmen einer strengen Prüfung zu unterziehen.

Natürlich ist es ein weiter Weg von der schmerzhaften Erkenntnis der elterlichen Lüge zur Ansicht, daß Götter nicht existieren. Aber darum geht es hier nicht. Hier geht es um den Mut und die kritische Einstellung, die Kinder schon sehr früh gegen alle Widerstände ihrer Umgebung entwickeln können (oft nur im geheimen).

Sicherlich ist Greenblatt kein Einzelfall. Manche Kinder kommen durch ganz ähnliche Umstände zu der schmerzhaften Erkenntnis von ihrem Umfeld belogen zu werden. Kühnheit, Mut oder Wißbegierde müssen nicht die ausschlaggebenden Gründe sein, natürlich kommen auch  andere typische Merkmal von Kindern in Frage wie ihre Verspieltheit oder Unvoreingenommenheit. Hier ein weiteres Beispiel, bei dem eher kindlicher Trotz oder Unbeherrschtheit eine Rolle spielen:

ein Sechsjähriger erzählt, er hätte Gott in Gedanken mit einem sehr bösen Schimpfwort bedacht, nur weil man ihm versichert hatte, daß Gott all diejenigen straft, die ihn beschimpfen. Er tat es trotzdem. Er hatte sich einfach nicht zurückhalten können - es war zu verlockend es auszuprobieren. Da zunächst nichts geschah, dachte der junge Mann, er hätte gewonnen. Aber die Eltern hatten ihm auch erzählt, die Strafe müsse nicht sogleich erfolgen ("Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, bei großen läßt er sich Zeit"). Das verwirrte ihn sehr, denn diese These konnte er nicht mehr widerlegen, - das hatte er folgerichtig erkannt: sie war zu unbestimmt um überprüfbar zu sein (wie so viele Dogmen). Tatsächlich ist die These sogar pathologisch unterdeterminiert

Aber was auch immer die kindliche Motivation sein mag, gegen religiöse Indoktrination zu rebellieren, der Ausgang bleibt oft genug ungewiss. Während der kleine Greenblatt mit einem einfachen Experiment erfolgreich war, konnte dies im letzteren Fall nicht mehr ausreichen. Im Gegenteil, die Moral von den "kleinen Sünden" ist eine Falle, aus der ein Kind ohne Hilfe nicht mehr so leicht herauskommt. Psychologische Nachwirkungen nicht ausgeschlossen. Der Fall mag harmlos erscheinen, aber es gibt natürlich viel beängstigerende Praktiken im Bereich religiöser Erziehung. Im 21. Jahrhundert werden Kinder immer noch in Koranschulen, Thoraschulen, buddhistische Klöster und christliche Anstalten gesteckt, wo sie unter Zwang die heiligen Schriften auswendig lernen müssen, bevor sie reif genug sind, sie zu beurteilen. Jeder weiß, daß dahinter Methode steckt.

Religionen haben früh die Strategie entwickelt, sich die intellektuelle Wehrlosigkeit von Kindern zunutze zu machen, um die Verbreitung ihrer Ideologie abzusichern. Eine bequeme und effektive Methode. Daß sie dabei oft auf Angst und sozialen Druck zurückgreifen ist bekannt. Selbst den Gesetzgebern moderner Staaten ist dies bewußt und trotzdem werden Religionen noch immer subventioniert und rechtlich gegenüber Spott und Verunglimpfung geschützt. Eines der besseren Kapitel (Kap. 9) in Dawkins "Gotteswahn" beschäftigt sich mit den körperlichen und psychischen Mißhandlungen, denen Kinder während ihrer religiösen "Erziehung" ausgesetzt sind und an deren Folgen sie oft ein Leben lang leiden. An solchen Fällen läßt sich das Ausmaß der Folgeschäden ablesen, wenn ein Kind es nicht schafft sich rechtzeitig von den einengenden und beängstigenden Theorien und Praktiken seiner irregeführten Umgebung zu befreien. Wieviele Kinder wären an Greenblatts Stelle so verängstigt gewesen, daß sie beim Aufschauen tatsächlich etwas "gesehen" hätten?


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Video: Christliche Fundamentalisten in Deutschland
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