Sunday, December 25, 2011

Bagdad - In Memoriam Christopher Hitchens


Uninteressant oder gar langweilig war Christopher Hitchens nie. Der Mann, der freiwillig die Waterboarding Foltermethode auf sich nahm, um aus erster Hand berichten zu können, verstarb am 15. Dezember. Vielen Lesern seines kurzweiligen Der Herr ist kein Hirte: Wie Religion die Welt vergiftet blieb seltsamerweise besonders diejenige Antwort in Erinnerung, die der überzeugte Atheist dem christlichen Radiomoderator Dennis Prager auf die folgende Frage gab: "Ich solle mir vorstellen, ich befinde mich in einer mir fremden Stadt, und die Nacht breche herein. Ich sähe mehrere Männer auf mich zukommen. Würde ich mich sicherer fühlen oder weniger sicher, wenn ich wüsste, dass sie gerade aus einer Gebetsversammlung kämen?"
Passend zur Adventszeit sollen hier die sechs kurzen Stadteportraits zitiert werden, die Hitchens zum Besten gab, um die Frage wiederum "aus erster Hand" zu beantworten, wobei er sich nur auf die Städte mit Anfangsbuchstaben 'B' beschränkten wollte. Heute der 6. und letzte Teil:


Christopher Hitchens (1949-2011)


"Kommen wir zuletzt nach Bagdad. Die Stadt ist eines der wichtigsten Zentren der Kultur und der Gelehrsamkeit seit Beginn der Menschheit. Hier lagerten einige der verlorenen Werke des Aristoteles und anderer Griechen – »verloren« deshalb, weil die christliche Kirchenführung sie verbrannte oder verbot; die Philosophieschulen schloss sie, weil es vor den Lehren des Jesus keine nutzbringenden Gedanken zur Moral gegeben haben könne. In Bagdad wurden diese Schriften rückübersetzt und gelangten über Andalusien zurück in den unkultivierten »christlichen« Westen. Die Bibliotheken, Dichter und Architekten Bagdads waren berühmt. Viele Kulturleistungen wurden unter muslimischen Kalifen erbracht, die sie zuließen, ebenso häufig aber auch unterdrückten. Darüber hinaus gibt es in Bagdad Spuren des alten chaldäischen und nestorianischen Christentums, und es war eines der zahlreichen Zentren der jüdischen Diaspora. Bis Ende der Vierzigerjahre lebten dort ebenso viele Juden wie in Jerusalem. Zum Sturz Saddam Husseins im April 2003 werde ich hier nicht Position beziehen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass, wer sein Regime als »säkular« bezeichnet, sich etwas vormacht. Zugegeben, die Baath-Partei wurde von Michel Aflak gegründet, einem finsteren Christen mit Hang zum Faschismus, und die Parteimitgliedschaft stand allen Religionen offen, wobei es vermutlich nur wenige jüdische Mitglieder gab. Doch spätestens seit seinem verhängnisvollen Einmarsch in den Iran 1979, der aufseiten der iranischen Theokratie die wütende Anschuldigung nach sich zog, er sei ein »Ungläubiger«, verbrämte Saddam Hussein seine Herrschaft – gestützt von der religiösen Minderheit der Sunniten – mit Frömmigkeit und dem Hinweis auf den Dschihad. (Auch die syrische Baath-Partei, die sich ihrerseits auf eine kleine, alawitisch dominierte soziale und religiöse Minderheit stützt, unterhält übrigens eine dauerhafte und heuchlerische Beziehung zu den iranischen Mullahs.) Saddam versah die irakische Flagge mit den Worten »Allahu akbar« (»Gott ist groß«). Er finanzierte eine große internationale Konferenz heiliger Krieger und Mullahs und unterhielt überaus freundschaftliche Beziehungen zu dem anderen großen Staatsmäzen der Region, der Völker mordenden Regierungdes Sudans. Er ließ die größte Moschee der Region erbauen und gab ihr den Namen »Mutter aller Schlachten«; der Koran dort war mit Blut geschrieben, angeblich seinem eigenen. Seiner Völkermordkampagne gegen die (vorwiegend sunnitischen) Kurden, in deren Verlauf unter Einsatz chemischer Waffen mehrere Hunderttausend Menschen ermordet oder deportiert wurden, gab er den Namen »Anfal-Operation«. Mit diesem Begriff bezog er sich auf Sure 8 des Korans mit dem Titel »Die Beute« und die dort angeführten Rechtfertigungen für die Plünderung und Zerstörung von Nichtgläubigen. Als die Koalitionstruppen die irakische Grenze überschritten, stellten sie fest, dass sich Saddams Armee auflöste wie ein Stück Zucker in einer Tasse Tee. Allerdings stießen sie auf recht hartnäckigen Widerstand vonseiten einer paramilitärischen Gruppe, den Saddam-Fedajin, die von ausländischen Dschihadisten verstärkt wurde. Diese Gruppe hatte unter anderem die Aufgabe, jeden zu exekutieren, der die westliche Intervention öffentlich begrüßte. Bald tauchten Videoaufnahmen abscheulicher Verstümmelungen und öffentlicher Hinrichtungen durch Erhängen auf. Über einige Eckpunkte besteht wohl Einigkeit: Das irakische Volk musste in den vergangenen fünfunddreißig Jahren des Krieges und der Diktatur viel erdulden, das Saddam-Regime hätte als ein vom internationalen Recht geächtetes System nicht ewig Bestand gehabt, und die irakische Gesellschaft hätte daher – ungeachtet etwaiger Einwände gegen die Mittel, mit denen der »Regimewechsel« erwirkt wurde – eine Atempause verdient, um über Wiederaufbau und Versöhnung nachzudenken. Doch sie bekam keine einzige Sekunde zum Durchatmen. Jeder weiß, wie es weiterging. Die Anhänger der al Kaida begannen unter Führung des jordanischen Knastbruders Abu Musab al-Sarkawi einen blutrünstigen Mord- und Sabotagefeldzug. Sie ermordeten nicht nur unverschleierte Frauen, säkulare Journalisten und Lehrer, legten nicht nur Bomben in christlichen Kirchen (etwa zwei Prozent der irakischen Bevölkerung sind christlichen Glaubens) und erschossen oder verstümmelten Christen, die Alkohol herstellten und verkauften; sie hielten nicht nur auf Video fest, wie sie zwölf nepalesische Gastarbeiter, die sie für Hindus hielten und die in ihren Augen daher keinerlei Rücksicht verdienten, erschossen oder ihnen die Kehle durchschnitten. Diese Gräueltaten fallen schon mehr oder weniger unter die Rubrik Routine. Den schlimmsten Teil ihres Feldzugs richteten sie gegen muslimische Glaubensbrüder. Moscheen und Bestattungsprozessionen der lange unterdrückten schiitischen Mehrheit wurden in die Luft gesprengt. Pilger, die von weit her zu den soeben erst zugänglich gemachten Schreinen bei Kerbela und Nadschaf kamen, riskierten dabei ihr Leben. In einem Brief an seinen Führer Osama bin Laden gab Sarkawi zwei Hauptgründe für diese hinterhältige Politik an. Erstens, so schrieb er, seien die Schiiten Häretiker, weil sie nicht den rechten salafistischen Weg der Reinheit beschritten, und somit geeignete Opfer für die wahrhaft Heiligen. Zweitens ließen sich durch das Entfachen eines Religionskrieges in der irakischen Gesellschaft die Pläne der westlichen »Kreuzritter« durchkreuzen. Offenbar wollte Sarkawi eine Gegenreaktion der Schia provozieren, die wiederum die sunnitischen Araber in die Arme der von bin Laden gesteuerten »Beschützer« trieb. Und ungeachtet der hehren Appelle des schiitischen Großayatollah Sistani erwies es sich als recht einfach, eine solche Reaktion zu provozieren. Bald töteten und folterten schiitische Todesschwadronen, oft in Polizeiuniform, aufs Geratewohl Menschen sunnitischen Glaubens. Der heimliche Einfluss der benachbarten »islamischen Republik« in Teheran war unübersehbar, und in manchen schiitischen Gegenden wurde es auch für unverschleierte Frauen und säkular orientierte Menschen gefährlich. Die Iraker blicken auf eine lange Tradition interkonfessioneller Ehen und Zusammenarbeit zurück. Doch wenige Jahre dieser bösartigen Dialektik haben eine Atmosphäre des Elends, des Misstrauens, der Feindseligkeit und der sektiererischen Politik geschaffen. Wieder einmal hatte
die Religion alles vergiftet."
Heyne, München, 2009, Kapitel 2, S. 30-42. 




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