Wednesday, June 13, 2012

CERN: Mut versus Peinlichkeit


Der Unterschied zwischen religiösen Menschen und kritisch rationalen Menschen ist groß: während für die Anhänger eines Glaubens gewisse Annahmen tabu sind und nicht hinterfragt werden dürfen, ist dies beim kritisch denkenden Menschen nicht der Fall, für den theoretisch jede seiner Annahmen fallibel bleibt, wenn er praktisch gesehen auch nicht ständig an ihnen zweifeln muß. Dieser Unterscheidung ist erkenntnistheoretischer Natur.
Die Logik, die dieser kritischen Methode zugrunde liegt, ist die: ausgehend von meinen Annahmen, Definitionen, empirischen Daten und Hypothesen über die Welt, und den logischen Regeln, mit deren Hilfe ich Konsequenzen aus diesen ableite und überprüfe, erweitere ich stetig meinen Horizont. Treffe ich auf Widersprüche, muß ich ich mir die Frage stellen, was an meinem theoretischen Gebäude nicht stimmt. 

D1, ..., Dn (Definitionen)
R1, ..., Rs (logische Ableitungsregeln)
ED1, ..., EDm (empirische Daten)
H1, ...,Hk (Hypothesen)
--> Widerspruch

Irgendetwas muß falsch sein: entweder liegt es an meiner Beobachtung (meinen empirischen Daten) oder eine (oder mehrere) meiner Annahmen, Definitionen, Hypothesen oder Ableitungsregeln sind falsch bzw. problematisch. Dementsprechend setzte ich voraus, daß sich meine Annahmen jederzeit als falsch herausstellen können (inklusive Definitionen, die in logischen Systemen auch wahr oder falsch sind). Was ich hier mache ist ein Rückschluß mit Hilfe der Regel:

A1,...,An --> Widerspruch (B und nichtB)
nichtA1 oder ... oder nichtAn

Als die Wissenschaftler des CERN letztes Jahr zu dem Ergebnis kamen, daß sich Neutrinos schneller als Licht bewegen könnten, standen sie vor genau so einem Rätsel: irgendetwas mußte an ihrem Theoriengebäude falsch sein, vorausgesetzt ihre empirischen Daten stimmten. Also baten sie die Amerikaner um Hilfe, ihre Ergebnisse zu überprüfen, denn diese hätten Einsteins berühmtes Resultat über die Lichtgeschwindikeit falsifiziert. Im nachhinein stellte sich dann heraus, daß die in Frage stehende Meßdatenreihe falsch war, aufgrund eines trivialen technischen Versehens: einem losen Kabel.
Die Leute von CERN hatten zweifellos Mut: daß sich nichts schneller als Licht bewegt, ist immerhin ein über die Jahre sehr gut überprüftes Resultat und seine Falsifizierung hätte eine Revolution in der Physik bedeutet. Aber sie hatten keine Angst sich lächerlich zu machen. Sie hatten sich nicht gescheut, das Risiko einzugehen, sich vor der gesamten "Fachwelt" zu "blamieren". Aber anstatt ihnen Respekt zu zollen, werden sie mit Spott und Hohn übergossen, obwohl sie ja selbst immer betont hatten, sie seien skeptisch und obwohl sie andere Wssenschaftler um Hilfe gebeten hatten, ihre Ergebnisse zu überprüfen:



"Der Kurznachrichtendienst Twitter läuft mit Kommentaren voll und mehr oder weniger ernst gemeinten Deutungsversuchen. Beiträgen wie diesen: „Weltbild wiederhergestellt“, „Alter Netzwerker-Spruch: Die Intelligenz liegt im Kabel“, „Keine überlichtschnellen Neutrinos. Jemand hatte bloß auf den Turbo-Knopf gedrückt. (Lasset uns ein Mem draus machen!)“, “Kabelsalat im Cern“, „Ach wie schade - die Epoche der Neutrino-Witze wird wohl eine kurze gewesen sein“."

Diese übertriebene Betonung der Peinlichkeit einen Fehler gemacht zu haben ist selbst peinlich  (Peinlich: Kabel-Defekt statt superschnelle Neutrinos). Fehler passieren überall - auch in der Geschichte der Wisenschaften sind Fehler keine Seltenheit. Nur weil man in der Politik, in Sport und Kunst selten und in der Religion so gut wie nie Fehler eingesteht, sollte man sich aber davon nicht täuschen lassen, daß wir alle fallibel sind. Und daher sollte man der weit verbreiteten Kultur der Fehlerlosigkeit höchst skeptisch gegenüber stehen.

Übrigens, die dümmste Überschrift stammte sicherlich vom Online Focus: Niemand bricht Einsteins Gesetz. (Kommt man dafür ins Gefängnis?) Manche Leute kennen tatsächlich nicht den Unterschied zwischen empirischen und normativen Gesetzen, den Unterschied zwischen Sein und Sollen. Das ist vom selben geistigen Zuschnitt, der wohl auch dem 7-Jährigen Stephen Greenblatt verboten hatte, ein mutiges Experiment zu wagen.


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