Thursday, June 7, 2012

Ein Puertoricaner, der die Hosen herunterlässt - In Memoriam Ray Bradbury


     "Wie lange ist es her, seit Sie eine Geschichte schrieben, in der Sie Ihre wahre Liebe oder unbändigen Hass zu Papier brachten? Wann haben Sie zum letzten Mal gewagt, ein liebgewonnenes Vorurteil herauszulassen, so dass es wie ein Blitz auf Ihrer Seite einschlug? Was ist das Beste oder das Schlimmste in Ihrem Leben, und wann sind Sie bereit dazu, es herauszuflüstern oder zu -schreien?
     Wäre es nicht beispielsweise herrlich, eine Ausgabe von Harper's Bazaar, die Sie zufällig beim Zahnarzt durchblättern, wegzuschleudern, zu Ihrer Schreibmaschine zu stürmen und sich von Ihrem ausgelassenen Zorn tragen zu lassen, um den lächerlichen und manchmal schockierenden Snobismus der Zeitschrift anzugreifen? Vor Jahren tat ich einmal genau das. Ich stieß zufällig auf Seiten, auf denen die Fotografen des Bazaar in ihrer pervertierten Auffassung von Gleichheit Puertoricaner aus Elendsvierteln als Kulisse für ihre künstlich abgemagerten Models benutzten, die für noch ausgemergeltere hungersüchtige Halbfrauen in den elegantesten Salons der Welt posierten. Die Bilder machten mich derart wütend, dass ich zu meiner Schreibmaschine rannte, nicht ging, und Sonne und Schatten schrieb, eine Geschichte über einen alten Puertoricaner, der dem Fotografen vom Bazaar den Tag verdirbt, indem der sich in jedes Motiv schleicht und die Hosen herunterlässt." Ray Bradbury in Zen in der Kunst des Schreibens. Autorenhaus-Verlag. Berlin, 2003, S.18f.

Hesse, Salinger und Bradbury haben eines gemeinsam: ihre Erzählungen sprechen Jugendliche an, oder Junggebliebene, wenn man will, obwohl man sie nicht als Jugendschriftsteller bezeichnen kann. Der Geist des Widerstands ist bei allen dreien vorhanden und erklärt teilweise deren Anziehnungskraft. Bei Bradbury kommt hinzu, daß seine Jugendlichen eher noch jünger sind als die der Leserschaft von Hesse oder Salinger. Grund dafür dürfte Bradburys starke Emotionalität sein - seine eigene und die seiner Figuren. Er war weniger ein kühl analysierender Intellektueller, sondern einer, der im ersten Schritt des kreativen Prozesses des Schreibens konsequent die Technik des Nicht-Denkens anwandte, bevor er daran ging die Erzeugnisse seines Unbewußten zu redigieren. Im Gegensatz zur Norm ließ Bradbury in seinen Short Stories und Romanen auch ein hohes Maß an positiven Gefühlen zu. Freude, pure Lebenslust, Liebe, Neugier und Freundschaft u.a. spielen in seinen Werken eine große Rolle - und wirken auf Erwachsenere oft "uncool" oder peinlich. Seine Figuren erscheinen vielen einfach zu lebhaft. (Jeder darf sich selbst die Frage stellen, warum das so ist.) Das Großartigste an Bradbury waren und bleiben aber seine Ideen, die man oft genug nie mehr vergessen wird. Ray Bradbury starb letzten Dienstag, dem 5. Juni 2012, im Alter von 91 Jahren.



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