"Der Zusammenbruch der Stammesformen, der geschlossenen Gesellschaftsordnungen Griechenlands, läßt sich bis auf die Zeit zurückverfolgen, in der das Wachstum der Bevölkerung sich in der herrschenden Klasse der Grundbesitzer fühlbar machte. Dies bedeutete das Ende der «organischen» Gebundenheit an den Stamm. Denn damit entstanden soziale Spannungen innerhalb der geschlossenen Gesellschaft der herrschenden Klasse. Zuerst schien es eine gewissermaßen «organische» Lösung dieses Problems zu geben, nämlich durch die Gründung von Tochterstädten. (Der «organische» Charakter dieser Lösung wird durch die magischen Prozeduren unterstrichen, die man bei der Aussendung der Kolonisten einhielt.) Aber dieses Ritual der Kolonisation konnte den Zusammenbruch nur hinausschieben. Es schuf sogar neue Gefahrenzonen, überall dort, wo es zur Berührung mit fremden Kulturen führte. Denn dort entstand die vielleicht größte Gefahr für die geschlossene Gesellschaft, der Handel, sowie eine neue Klasse, die sich mit Handel und Schiffahrt beschäftigte. Im sechsten Jahrhundert v. Chr. hatte diese Entwicklung zur teilweisen Auflösung der alten Lebensformen und sogar zu einer Reihe politischer Revolutionen und Reaktionen geführt. Und sie hatte nicht nur, wie in Sparta, zu Versuchen Anlaß gegeben, die alte Stammesform zu retten und die begonnene Entwicklung gewaltsam zum Stillstand zu bringen, sondern auch zu jener großen geistigen Revolution, zur Erfindung der kritischen Diskussion und damit zu einem Denken, das frei war von der Starrheit magischer Zwangsvorstellungen. Zur gleichen Zeit finden wir die ersten Symptome eines neuen Unbehagens. Die Last der Anforderungen der Zivilisation begann fühlbar zu werden.Diese Last, dieses Unbehagen, ist eine Folge des Zusammenbruchs der geschlossenen Gesellschaftsordnung. Sie wird auch heute noch gefühlt (und in Deutschland gerne mit dem Hegelianisch-sentimentalen Namen «Selbstentfremdung des Menschen» belegt). Es ist eine Last, die von allen getragen werden muß, die in einer offenen und teilweise abstrakten Gesellschaft leben und die sich bemühen müssen, vernünftig zu handeln, zumindest einige ihrer emotionalen und natürlichen sozialen Bedürfnisse unbefriedigt zu lassen und für sich und für andere verantwortlich zu sein. Wir müssen, glaube ich, die Last auf uns nehmen, als einen Preis, den wir zahlen müssen für jede neue Erkenntnis, für jeden weiteren Schritt zur Vernunft, zur Zusammenarbeit, zur gegenseitigen Hilfe; für jede Verlängerung des durchschnittlichen Lebensalters; und für jeden Bevölkerungszuwachs. Es ist der Preis für die Humanität." Karl Popper [1945], Kapitel 10, Abschnitt 2
Amsterdam: the “Pogrom” That Wasn’t
3 days ago
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