Saturday, June 30, 2012

Die Last der Zivilsation II


"Um Platon zu verstehen, müssen wir uns die ganze zeitgenössische Situation vor Augen führen. Nach dem Peloponnesischen Krieg wurde die Last der Zivilisation so schwer wie nie zuvor. Die alten oligarchischen Hoffnungen waren noch immer lebendig, und die Niederlage Athens trug sogar dazu bei, sie zu ermutigen. Der Klassen-kampf dauerte weiter an. Doch der Versuch des Kritias, die Demokratie zu zerstören und das Programm des alten Oligarchen durchzuführen, war fehlgeschlagen. Nicht aus Mangel an Entschiedenheit. Der rücksichtslose Gebrauch von Gewalt hatte sich als erfolglos erwiesen, trotz günstiger Umstände in Gestalt einer mächtigen Unterstützung von seiten des siegreichen Sparta. Platon fühlte die Notwendigkeit einer völligen Rekonstruktion des Programmes. Die Dreißig waren auf dem Gebiet der Machtpolitik hauptsächlich deshalb gescheitert, weil sie den Gerechtigkeitssinn der Bürger beleidigt hatten. Ihre Niederlage war vor allem eine moralische Niederlage gewesen. Der Glauben an die große Generation hatte seine Stärke bewiesen. Die Dreißig hatten nichts Ähnliches zu bieten – sie waren moralische Nihilisten. Das Programm des alten Oligarchen, das fühlte Platon, konnte nicht belebt werden, wenn man es nicht auf einen anderen Glauben gründete, auf einen Glauben, der die alten Stammeswerte wieder herstellte und sie dem Glauben an die offene Gesellschaft entgegensetzte. Die Menschen müssen gelehrt werden, daß Gerechtigkeit Ungleichheit ist und daß der Stamm, das Kollektiv, höher steht, als das Individuum." Karl Popper [1945], Kapitel 10, Abschnitt IV

"Dieser Traum von Einheit, Schönheit, Vervollkommnung, dieser Ästhetizismus, Holismus und Kollektivismus, ist Wirkung und Symptom des verlorenen Gruppengeistes des Stammes68. Er drückt die Gefühle und Hoffnungen aller Menschen aus, die unter der Last der Zivilisation leiden, und er appelliert an diese Gefühle. (Es gehört zu dieser Last, daß wir uns der Unvollkommenheiten unseres Lebens, der persönlichen wie auch der institutionellen Unvollkommenheiten, immer mehr und immer schmerzlicher bewußt werden; daß wir vermeidbares Leiden, Verschwendung und unnötige Häßlichkeit in immer größerem Ausmaße bemerken; und daß wir zur gleichen Zeit erkennen, daß es uns nicht unmöglich ist, etwas zur Verbesserung beizutragen; daß aber solche Verbesserungen ebensoschwer zu erreichen sind, als sie wichtig sind. Diese Gewißheit vergrößert die Last der persönlichen Verantwortung: wir tragen das Kreuz dafür, daß wir menschlich sind.)" Karl Popper [1945], Kapitel 10, Abschnitt IV

"Ich nehme an, daß das, was ich die «Last der Zivilisation» nenne, dem Phänomen ähnlich ist, das Freud vorschwebte, als er Das Unbehagen in der Kultur schrieb. Toynbee spricht von einer Empfindung des Dahintreibens (A Study of History V 412 ff.), aber er beschränkt es auf «Perioden der Auflösung», während ich das, was ich meine, sehr klar bei Heraklit ausgedrückt finde (Spuren finden sich bereits bei Hesiod); – und das lange vor der Zeit, zu der sich das, was Toynbee die «hellenische Gesellschaftsordnung» nennt, «aufzulösen» beginnt. Meyer spricht vom Verschwinden der «Geburtsstände, welche jedem Menschen seine Lebensstellung, seine bürgerlichen und sozialen Rechte und Pflichten und mit dem ererbten Beruf zugleich einen sicheren Erwerb unabänderlich zuwiesen» (Geschichte des Altertums, 1. Auflage, 1901 III 542). Diese Stelle gibt eine gute Beschreibung der Spannung in der griechischen Gesellschaftsordnung des fünften vorchristlichen Jahrhunderts." Karl Popper, [1945], Fußnote 8 zu Kapitel 10.

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