"Obwohl ihnen wichtige Tatsachen oft nur in beschränktem Maße zugänglich sind, so sind doch die einfachen Leute oft weiser als die Regierungen, und wenn nicht weiser, so doch oft von besseren und großherzigeren Intentionen geleitet." Karl Popper 1954 in "Die öffentliche Meinung im Lichte der Grundsätze des Liberalismus" in Popper [2009, S. 166]
Wenn da nicht so viele Gegenbeispiele wären, wie die vom Nationalsozialismus verhetzten Deutschen und Österreicher, oder die von ihren jeweiligen Regierungen getäuschten Mehrheiten amerikanischer Bürger, die bei Umfragen für die nächste Invasion votierten. Aber davon sollte man sich nicht täuschen zu lassen.
Sicher läßt sich jede Bevölkerung unter gewissen Umständen zu dummem und irrationalem Verhalten verleiten. Eine der beiden Bedingungen, die sicher am häufigsten "die einfachen Leute" fehlleiten, sind Unwissenheit und Angst. Unwissenheit wird im Eingangszitat von Popper auch als einschränkender Faktor erwähnt.
Instrumentalisierte Geheimhaltung, ideologisch gefärbte Desinformation, alle Arten von Beschränkungen der Meinungsfreiheit und Unterbindung oder Marginalisierung der Entwicklung einer rationalen öffentlichen Diskussion führen zu Unwissenheit, die Fehleinschätzungen in der Bevölkerung bedingt. Ökonomische Programme (IWF), die den Sparstift zuerst einmal bei der Bildung ansetzen, gehen aber genau in die falsche Richtung.
Angst: Bei einer Bevölkerung unter zu starkem ökonomischen und sozialen Druck läßt sich die schrägste Politik durchsetzen (z.B. Deutschland nach dem Versailler Vertrag). Schaffe einen inneren und äußeren Feind (Kommunismus, Islam, Terrorismus), dann lassen sich mit Hilfe der durch die Medien verbreiteten Angst Bürgerrechte relativ problemlos beschneiden (z.B. verstärkte Überwachung der Bürger).
Vorausgesetzt, daß diese beiden Bedingungen - Unwissenheit und Angst - in einer Bevölkerung NICHT vorherrschen, spricht einiges dafür, daß sie als Kollektiv gute Lösungen für politische Probleme von schlechten unterscheiden kann. Als Stützung dieser These kann man das Mehr-Augen-Prinzip anführen.
a) Zur Beurteilung von politischen Problemlösungen:
Obgleich nur wenige eine politische Konzeption entwerfen und durchführen können, so sind wir doch alle fähig, sie zu beurteilen. (Perikles von Athen, ca. 430 v. Chr.).
Den meisten Leuten aus der Privatwirtschaft ist das Vier-Augen-Prinzip bestens bekannt. Es wird immer dann angewandt, wenn es darum geht, das Risiko von Fehlern zu minimieren. Man verläßt sich auf die alte Weisheit, daß vier Augen "mehr sehen" als zwei, oder sechs mehr als vier. Dieses empirisch erprobte Verfahren findet man beinahe in allen Bereichen, von der industriellen Produktion bishin zum Korrekturlesen bei Verlagen. Es dient der Qualitätskontrolle. Auch in der Wissenschaft ist das Verfahren der gegenseitigen kritischen Prüfung ein unabdingbarer, integraler Bestandteil.
In der Politik verläßt man sich allerdings noch immer auf die Augen der Wenigen, die, weil sie meistens derselben Partei oder demselben "Beraterstab" angehören, auch noch jeweils auf einem Auge mit ideologischer Blindheit geschlagen sind. Schon die Selektion der "Experten" beruht meist ausschließlich auf esprit de corps. Dadurch wird die Qualitätskontrolle politischer Entscheidungen mehr oder weniger unterbunden. Wenn Fantasie und der Mut zu interessanten Lösungen vollends verlorengegangen sind, stehen am Ende nur noch TINA-Entscheidungen ("there is no alternative"). Im Gegensatz zur Politik käme kein Wissenschaftler auf die Idee seinen Lösungsvorschlag ausschließlich von seinen Freunden begutachten zu lassen. Hier liegt ein system-immanentes Problem von Parteiendemokratien vor. Die Wissenschaft hingegen lebt in dieser Hinsicht vom Mehr-Augen-Prinzip.
Vorausgesetzt wird hierbei natürlich, daß diejenigen, die überprüfen, dazu tatsächlich auch in der Lage sind. Übertriebene Anforderungen sind dabei aber fehl am Platz. Ein Software Tester etwa braucht keineswegs programmieren zu können. Tatsächlich beherrschen viele Software Tester keine einzige Programmiersprache. Obwohl gewisse technische Fertigkeiten für ihn sicher nicht von Nachteil sind, haben andere Kriterien für den Tester höheren Stellenwert, z.B. das richtige Verständnis der Logik von Testprozeduren, Erfahrung im Umgang mit Spezifikationen oder eventuell mathematisch-statistische Kenntnisse. Es gibt keinen Grund anzunehmen, warum die Anwendung des Mehr-Augen-Prinzips bei Vorlage von politischen Gesetzesentwürfen nicht erfolgreich anwendbar sein sollte. An der Komplexität von Rechtssystemen sollte dies nicht scheitern müssen. Wenn "einfache" Staatsbürger Gesetze nicht mehr verstehen bzw. beurteilen könnten, dann müsste entweder das Gesetz vereinfacht oder den Bürgern schon im Schulsystem politische Bildung bzw. ein Minimum an juristischem Wissen nähergebracht werden (was ohnehin nötig wäre).
b) Zum Auffinden politischer Lösungen:
Selbst das Heranziehen einer Masse von Menschen zur Lösung eines Rätsels wird in Zukunft immer häufiger zur Anwendung kommen, wie etwa bei Solve Puzzles for Science oder wenn das FBI bei der der Dechiffrierung eines Geheimcodes sich um Hilfe bittend nach außen wendet). Warum sollte man solche Verfahren prinzipiell nicht auch auf politische Probleme anwenden können? Man könnte bei einem gegebenen politischen Problem so vorgehen: 1) man stellt eine Liste von wertneutralen Definitionen aller relevanten Ausdrücke, die notwendig sind um das Problem präzise zu beschreiben, zur Verfügung; 2) man stellt eine Liste von Fakten (Statistiken, Tatsachenberichten, gesetzliche Vorschriften) zusammen, die möglicherweise zur Lösung des Problems notwendig oder nützlich sind; 3) man erstellt eine Liste von Desiderata, d.h. von Wünschen bzw. Bedingungen, welche die Lösung genügen soll (von welcher Seite auch immer); 4) man definiert, in welcher Form die Lösung angegeben werden soll, z.B. in Form einer Liste von Schritten (ähnlich wie bei einem Kochrezept oder einem Projektplan); 5) man wählt eine geeignete Plattform, die die Darstellung solcher Lösungsverfahren samt Begründung ermöglicht und offen Kritik zuläßt, einschließlich einer Bewertungsskala. Möge sich die beste Lösung durchsetzen!
Man kann Foren und Kommentarseiten zu Artikeln von Online-Zeitungen als eine ungerichtete Urform eines solchen Verfahrens betrachten.
Man kann Foren und Kommentarseiten zu Artikeln von Online-Zeitungen als eine ungerichtete Urform eines solchen Verfahrens betrachten.
Man könnte in Frage stellen, ob Millionen von Augen tatsächlich zu besseren Lösungen kommen, als die Geschulten, die "Experten", welche die Regierung bilden oder in ihrem Gefolge als sog. "Berater" dienen. Sehen vier Augen immer tatsächlich mehr als zwei, oder sechs mehr als vier? Sicher nicht. Rein logisch betrachtet ist die Anzahl der Köpfe nicht entscheidend. Aber die empirische Erfahrung in vielen verschiedenen Bereichen macht diese Technik der Risikovermeidung so wertvoll. Gibt es vielleicht eine Schranke, ab der nichts mehr zusätzlich geht? (Gibt es eine ungefähre, durchschnittliche prozentuelle Zahl, ab der zusätzliche Lösungssuchende keinen nennenswerten Beitrag mehr leisten werden?) Kommt auf das Problem an. Bei vielen politischen Problemen dürfte das eher nicht der Fall sein. Einen kleinen aber möglicherweise entscheidenden Fehler zu finden wäre schon ein Fortschritt.
Wenn man realistischerweise davon ausgeht, daß für jedes Mitglied eines Parlaments (samt seines Beraterstabes), das die Güte einer politischen Lösung beurteilen oder eine solche zu einem gegebenen Problem finden soll, mindestens ein Privatmensch (griech.: ἰδιότης, Idiot) existiert, der das ebenso gut kann, dann bleiben noch immer Tausende, Millionen, die das womöglich noch besser können bzw. einen wichtigen Beitrag leisten würden. "Experten" (echte und unechte) findet man überall. Vielleicht zählt ja Ihr eigener Steuerberater zu jenen, die eine adäquate Antwort auf die letzte Finanzkrise hätten. Das Ankreuzen von vorselektierten Ja-Nein Möglichkeiten bei Wahlen trägt dem Mehr-Augen-Prinzip und damit einer demokratischen Qualitätskontrolle jedenfalls kaum Rechnung.
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